Nasrudins Wahrheit
Mullah Nasrudin der weise Narr illustriert auf seine ihm zu eigene unübertreffliche Weise die Relativität subjektiver Wahrheit:
Der König saß in der Runde seiner Wesire und Vertrauten und beklagte sich, dass seine Untertanen so unwahrhaft sein. Nach eine Weile der Diskussion ergriff Mullah Nasrudin das Wort:
“Majestät, es gibt nun mal Wahrheit und Wahrheit! Die Menschen müssen erst die echte Wahrheit üben, ehe sie relative Wahrheit anwenden können. Aber leider versuchen Sie es immer wieder umgekehrt. Das hat zur Folge, dass sie es mit der menschengeschaffenen Wahrheit nicht so genau nehmen, denn im Grunde wissen Sie, dass diese nur eine Erfindung ist.”
Das war dem König nun doch zu kompliziert: “Entweder ist etwas wahr oder es ist unwahr! Und so werde ich die Leute eben dazu zwingen, die Wahrheit zu sagen, bis sie sich daran gewöhnt haben, nicht mehr zu lügen!”
Als am nächsten Morgen das Stadttor geöffnet wurde, war dort bereits ein Galgen aufgebaut, neben dem ein Offizier der königlichen Garde stand. Der Herold verkündete: “Wer von euch diese Stadt betreten möchte, muss zuerst auf die Fragen des Offiziers die Wahrheit sagen! Ansonsten wird er gehenkt.” Nasrudin trat als erster vor. “Wohin gehst du?”, fragte der Offizier in barschem Ton und fügte hinzu: “Sag die Wahrheit, sonst wirst du gehängt!”
“Ich gehe in die Stadt, um an diesem Galgen gehenkt zu werden.”
“Das glaube ich Dir nicht!”
“Na bitte! Da haben wir’s! Wenn ich gelogen habe, dann hängt mich doch auf!”
“Aber wenn wir das täten, würde es ja das, was du gesagt hast, zur Wahrheit machen!”, zweifelte der Offizier.
“Genau – zu eurer Wahrheit!”